Ihr nennt es Stabilität, wir nennen es Diktatur.
Ich sitze hier, fernab der Strassen Belgrads, Novi Sads, Niš’ und all jener protestierenden Städte und Dörfer Serbiens, und doch hallen die Rufe der Studierenden in meinem Herzen wider. Es sind Stimmen der Verzweiflung, aber auch der Hoffnung – einer Hoffnung, die ich fast verloren glaubte. Die Heimat meiner Eltern, meiner Großeltern, meiner Wurzeln, blutet, doch sie gibt nicht auf.
Die jüngsten Proteste in Serbien sind mehr als nur ein Aufschrei gegen ein einzelnes tragisches Ereignis. Der Einsturz des frisch renovierten Bahnhofs in Novi Sad, der 15 unschuldige Menschenleben forderte, war kein blosser Unfall – er war das Symbol für eine Regierung, die ihr eigenes Volk verraten hat. Eine Regierung, die Korruption nicht nur duldet, sondern aktiv kultiviert. Eine Regierung, die sich bereichert, während Schulen verfallen, Krankenhäuser bröckeln und Menschen hungern.
Und als die Studierenden ihre Stimme erhoben, um Gerechtigkeit zu fordern, war die Antwort keine Einsicht, keine Verantwortung – sondern nackte Gewalt. Maskierte Schlägertrupps jagten die jungen Demonstrierenden, jene, die den Mut hatten, für eine bessere Zukunft einzustehen. Von den aggressiven Regierungs-Medien ausgepeitschte Individuen fuhren mit ihren Autos direkt in die Blockaden und verletzten dadurch bereits mehrere Menschen. Man kann nur von Glück sprechen, dass bisher niemand ums Leben gekommen ist. Regierungsnahe Medien veröffentlichten die Namen von mehreren Demonstranten, und ihre Gesichter, als wären sie Verbrecher und nicht die wahren Verteidiger einer Demokratie im Todeskampf in einem aufgewühlten Land.
Es ist eine bittere Ironie, dass diese korrupte Regierung nicht nur durch interne Machtstrukturen, sondern auch durch die Unterstützung von aussen am Leben gehalten wird. Die EU spricht von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, doch sie duldet ein Regime, das genau diese Werte mit Füssen tritt – solange es Stabilität verspricht und zukünftig brav seine Rohstoffe wie z.B. Lithium abliefert. Die USA, Russland, China – sie alle haben ihre eigenen Interessen in Serbien, und solange die Regierung ihnen dient, sehen sie aktiv weg. Menschenrechte, Meinungsfreiheit, die Schreie der Protestierenden – sie sind nur Randnotizen in einem geopolitischen Schachspiel. Und während sich die Grossmächte die Hände reichen, steht das serbische Volk allein auf der Strasse.
Ich sehe all das aus der Ferne, aber die Wut, die Angst, die Trauer – sie sind mir nicht fremd. Ich spüre sie in meinen Adern, in meiner Sprache, in der Erinnerung an ein Serbien, das einmal mehr war als eine Bastion korrupter Machthaber.
Doch noch ist nicht alles verloren. Denn trotz Schlägen, Drohungen und Diffamierungen stehen sie weiterhin auf den Strassen. Immer mehr schliessen sich an, aus allen Schichten, aus allen Generationen. Ein Volk, das zu lange unterdrückt wurde, beginnt, seine eigene Stimme wiederzufinden.
Ich bete, dass dieses Mal die Stimmen lauter sind als die Knüppel. Dass die Sehnsucht nach Gerechtigkeit stärker ist als die Angst. Und dass Serbien, meine Heimat in der Ferne, endlich das Land wird, welches es immer hätte sein sollen – eines der Freiheit, der Würde und der Wahrheit.
Ps: Die Fotos in der Gallerie unten habe ich letzten Samstag bei einer Unterstützungs-Demonstration in Zürich aufgenommen. An vielen Orten auf der Welt gehen im Ausland lebende Serben auf die Strasse, um ihre protestierenden Studenten und Landsleute zu unterstützen.